Zukunft der Psychiatrie

Die besondere Situation der Psychiatrie ist heute vor allem dadurch geprägt, dass psychische Erkrankungen weltweit an Bedeutung gewinnen. Dies betrifft sowohl die Prävalenz verschiedener Krankheitsbilder, die Nachfrage nach Diagnostik und Therapie, als auch die gesundheitsökonomische Sicht. Im Deutschland im Jahr 1998 durchgeführte epidemiologische Studie bzgl. der psychischen Krankheiten zeigte, dass 42,6 % aller Menschen im Laufe ihres Lebens einmal eine psychische Erkrankung erleidet. Diese Lebenszeitprävalenz bestätigt, dass das Auftreten psychischer Erkrankungen durchaus vergleichbar ist mit dem von körperlichen Krankheiten, wie etwa dem Bluthochdruck. Am häufigsten treten darunter Angststörungen (12,6%), somatoforme Störungen (11%), depressive Störungen (8,8%) und Alkoholabhängigkeit (6,3%) auf.

Die Gesellschaft geht spürbar offener mit den psychischen Erkrankungen um, mehr und mehr Menschen bekennen sich offen Inanspruchnahme einer stationären oder ambulanten Behandlung durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Während der Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage im Gesamtdurchschnitt in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, ist der Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische/mentale Erkrankungen in den letzten 15 Jahren gestiegen.

Chronische Krankheiten führen mit der gesetzlichen Rentenversicherung seit Jahren am häufigsten zur Frühberentung. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die psychischen Erkrankungen, deren Anteil an den Frühberentungen einen bemerkenswerten Anstieg zu verzeichnen hat.

Nach Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommen im Jahr 2030 in den industrialisierten Ländern 5 der 10 mit den stärksten Beeinträchtigungen verbundene Krankheiten aus dem Bereich Psychiatrie: Depression, Demenz, Schizophrenie und Bipolare Störungen.

Um diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen, sind sowohl die kontinuierlichen Erforschungen der Ursachen und die weitere Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen als auch Sicherstellung bestmöglicher Versorgung durch hochqualifizierte Ärzte unseres Faches von äußerster Wichtigkeit.  

  1. Die Therapie psychischer Erkrankungen hat sich in den letzten Jahrzehnten sichtbar verändert. Die aktuelle Entwicklung der biologischen Verfahren zur Behandlung von Patienten mit mentalen Erkrankungen hat den geisteswissenschaftlichen Blick zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Dennoch ist und bleibt dieser gegenüber den somatischen Fächern einzigartig, indem er den Menschen in seiner Ganzheit betrachtet und hat im Bereich der Psychopathologie eine Hohe Tradition in dem deutschsprachigen Raum. Evidenzbasierte Medizin (EbM) gilt heute als allgemeinverbindlicher Standard.
  2. Die rasche Entwicklung von Forschungsmethoden in der Genomik und Bildgebung haben unser Wissen über seelische Erkrankungen in relativ kurzer Zeit enorm bereichert. Gleichzeitig sollte die Psychiatrie bei der neurowissenschaftlichen Forschung komplexe Phänomene (z.B. Emotionen, Kognition, moralisches Verhalten) ihre traditionell hohe psychopathologische und phänomenologische Kompetenz auch zukünftig nutzen. Die Evaluation innovativer Diagnostika und Therapeutika erfordert effektive klinische Forschung.
  3. Obwohl psychische Erkrankungen weiterhin und zunehmend führend zur globalen Krankheitslast beitragen, stagniert die Verbesserung von Behandlungsmöglichkeiten. Personalisierte Ansätze wie die Präzisionsmedizin versuchen, eine solche Verbesserung durch die Identifikation prognostischer Subgruppen zu erzielen. Die Erforschung von soziokulturellen, genetischen, Umwelt- und Persönlichkeitseinflüssen auf die psychische Gesundheit in Kohortstudien ist eine Grundlage für Präzisionsmedizin und ermöglicht damit zielgenauere Behandlungs- und Prävenzionsstrategien.

Veränderungen in neurobiologischen Systemen des Belohnungslernen könnten helfen, die Entstehung psychischer Störungen zu erklären.

Genetischer Einfluss auf neuronale Mechanismen psychischer Störungen

Umwelteinfluss auf neuronale Mechanismen psychischer Störungen

Aversive Umwelteinflüsse, wie soziale Deprivation, Luftverschmutzung, Kindesmisshandlung und sogar alltägliche belastende Lebensereignisse sind mit einer größeren Anzahl psychischer Störungen bei jungen Menschen verbunden. Die neurobiologischen Grundlagen dieser Verbindungen waren lange unbekannt. Bildgebungsuntersuchungen haben strukturelle neuronale Korrelate von Kindesmisshandlung und städtischem Aufwachsen identifiziert. Typischerweise sind diese Stressoren im Kindesalter mit geringem Volumen einzelner Hirnregionen im Jugend- und Erwachsenenalter assoziiert. Nur wenige bisherige Studien integrierten psychopathologierelevantes Verhalten, Neuroimaging und Umweltfaktoren. Zum Beispiel zeigte sich ein kausaler Einfluss von Peer-Viktimisierung auf psychische Gesundheit, der mit familiärem Hintergrund und genetischem Risiko korreliert war.  Inwieweit das Gehirn diese Beziehungen moderiert, war jedoch unbekannt. In IMAGEN konnten wir zeigen, dass die Korrelation von Peer-Viktimisierung mit erhöhter generalisierter Angst durch Veränderung der strukturellen Hirnentwicklung im Kinder- und Jugendalter moderiert wird. Frühzeitige Interventionen zur Reduzierung dieser Risikoexpositionen könnten die hirnstrukturellen Veränderungen verhindern, die der Entstehung derartiger psychischer Störungen zugrunde liegen.

Verwendung von Langsschnittdaten zur Entwicklung von Vorhersage- und Entstehungsmodellen für psychische Störungen: STRATIFY Studie

Prävention der Effekte aversiver Umweltbedingungen für die psychische Gesundheit auf globaler Ebene:

Urbanizität gehört dem schnellsten wachsenden Ursachen für psychische Erkrankungen: Zusammen mit Überbevölkerung, Armut, Verdrängung, sozialem Niedergang und familiärer Trennung bei Migranten trägt die Urbanisierung zu Umweltrisiken bei und damit zu verstärktem Auftreten von Angstzuständen, Depressionen und Drogenmissbrauch.